Morgen abend, morgen abend? Was ist denn dieser Abend? Er wird für mich um fünf Uhr früh angangen. Morgen, das ist heute, Gott sei Dank, gestern ist vergangen. Ich werde also um neun Uhr an Ihrer Tür sein; man wird mir sagen, daß Sie nicht zu Hause sind. Ich werde um 10 rund um 11 da sein; wird man mir noch immer sagen, Sie seien nicht zu Hause?
Ich leide im vorhinein unter allem, was ich noch leiden werde. Ich wette, daß Sie mir nicht glauben, denn Sie kennen mich ja gar nicht. In mir ist ein geheimnisvoller Punkt. Solange man ihn nicht erreicht, bleibt meine Seele unbewegt. Sobald man ihn nicht berührt, ist alles entschieden. Es ist vielleicht noch Zeit. Ich denke an nichts als an Sie, aber ich kann mich vielleicht noch bekämpfen. Seit den letzten zwei Tagen sehe ich nichts anderes als Sie. All Ihr Reiz, den ich immer gefürchtet habe, ist in mein Herz eingefallen. So sehr, daß ich kaum zu atmen vermag, während ich Ihnen schreibe. Hüten Sie sich, Sie können zu unglücklich machen, als daß Sie nicht selbst darüber unglücklich würden: ich habe nur immer einen Gedanken. Sie haben es gewollt. Dieser Gedanke sind Sie. Politik, Gesellschaft, alles ist verschwunden. Ich komme Ihnen vielleicht verrückt vor; aber ich sehe Ihren Blick, ich wiederhole mir Ihre Worte, ich sehe diese Züge eines Mädchens, die so viel Anmut mit so viel Feinheit verbinden.
Benjamin Constant an Mme. Récamier | 3. September 1814